Grenzland Literatur – Historische und Gegenwarts-Literatur aus der Bukowina und Galizien
Eine literarische Spurensuche mit anschliessender Reise
«Osteuropa» goes east! – und doch bleibt hinter der EU-Ostgrenze das flächenmässig grösste Land Europas zurück. Was für die Fussball-EM in der Ukraine aufgerüstet wird, haben kleinere und ganz andere «Prominente» dieses Landes schon Jahre zuvor mit Bravour geschafft: auf den Zug «nach Westen» aufzuspringen, so lange er «Fortschritt» bedeutet.
Westukrainische Literaten, die seit den 1980er Jahren nicht still halten und trotz erneuter Repressionen des Staates die geistige Kultur auch jetzt erhalten, haben den «Zug 76» neu erfunden. Der Zug Nummer 76 hat vor dem Zweiten Weltkrieg halb Osteuropa durchfahren, führte in den 60er Jahren von Danzig bis Varna am Schwarzen Meer und pendelt heute nicht mehr über die Grenze der Westukraine hinaus. Mit dem Projekt «Zug 76» sind die Autoren aber wieder physisch über die Grenzen nach Deutschland gekommen. Und seit spätestens 2003 stehen einige von ihnen nicht nur Brücke zwischen Ost und West, der EU und der Ukraine; sie schliessen auch die Leerstellen ihrer eigenen Geschichte und lösen die Geheimnisse ihres Vergessens in eine schonungslose Wahrheit unhintergehbarer Fiktion auf: Während die einen mit habsburgischen Mythen das immer noch «reiche Land der armen Leute» (Martin Pollack) kontextualisieren und ironisieren (Juri Andruchowytsch, Natal’ka Snjadanko, Taras Prochasko), beleuchten andere das dunkle «Museum» der Angst, die leblose Gegenwart einer nicht enden wollenden Vergangenheit und politischer Haft (Oksana Sabuschko).
Die Grenzen des Landes, die Limitierung des Individuums und die immer neuen Bruchstellen der Geschichte sind daher der eigentliche Ort einer Literatur, die seit dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1918 ihre Stimme über den Zaun erhebt. Ihre Namen gehören Dichtern der deutsch-jüdischen Generation aus der Zwischenkriegszeit: Paul Celan, Joseph Roth, Rose Ausländer oder Moses Rosenkranz; da ihre Lyrik genau dann zur Blüte gelangte, als es weder ein Publikum noch Verlage gab, musste sie – so unverhofft, wie sie gekommen war – schon wieder untergehen: in der Emigration, im Ghetto, KZ oder Gulag. Die Züge waren übervoll; wer fliehen wollte, musste aufspringen, bevor gehalten wurde. Der Initiant des literarischen «Zuges 76» ist Juri Andruchowytsch, hierzulande der bekannteste Gegenwartsautor aus der Westukraine. Schon als Kind hat im vormals polnischen Stanislau und heutigen Iwano-Frankiwsk den rollenden Wagen, die nicht hielten, nachgeschaut; und der nur wenige Jahre jüngere Taras Prochasko tat es kaum anders. Während letzterer in seiner Kurzprosa das Vorbeifahren wie die Bewegung der Zeit im Raum
aufzuhalten und die Physiologie der Erinnerung aufzuschreiben versuchte, studierte der andere Landkarten und bemerkte, dass die Mitte Europas immer woanders lag. An den letztjährigen Solothurner Literaturtagen behauptete Andruchowytsch, Osteuropa habe nun die Ostukraine erreicht: «Somit liegt die Westukraine im Westen».
Ob dem so ist, erfahren wir auf unserer Spurensuche: mit Texten der Weltliteratur, kleinen Fragmenten und ungedruckten Manuskripten, aber auch – sofern zusätzliches Interesse besteht – mit dem Zug, dessen Linie,
ob historisch oder fiktiv, noch immer zwischen Lemberg, Czernowitz und Iwano-Frankiwsk verkehrt.
Leitung: Judith Schifferle
Daten: 10.1. 2012, 17.1.,24.1., 31.1., 7.2., 14.2., 6.3., 13.3., 20.3. 2012, Zeit: 18.30 bis 20.00 Uhr
Anmeldung: info@philosophicum.ch